Gestiegene Erwartungen: Die Berliner Republik und ihre internationale Handlungsfähigkeit

Wolfgang Ischinger

AICGS Trustee

Ambassador Wolfgang Ischinger is Chairman of the Munich Security Conference and a member of the AICGS Board of Trustees.

Botschafter Wolfgang Ischinger ist Vorsitzender der Münchener Sicherheitskonferenz sowie Mitglied des AGI Kuratorium. Seine Rede „Hauptstadtrede“, die er am 26. September bei einer Veranstaltung der Stiftung Zukunft Berlin im Allianz Forum Berlin hielt, thematisiert die internationalen Erwartungen an Deutschland und deren Bedeutung für die Zukunft der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.

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Einleitung

  • Die neue Bundesregierung wird außen- und sicherheitspolitisch eine Lage vorfinden, die sich massiv von der Lage unterscheidet, die jede andere Bundesregierung zu Beginn einer Legislaturperiode vorgefunden hat.
  • Die Sorgen mancher unserer Nachbarn vor 20 Jahren, man müsse sich vor einer Berliner Republik fürchten, haben sich erfreulicherweise nicht bewahrheitet. Und doch haben wir, wie Timothy Garton Ash 2012 auf der Münchner Sicherheitskonferenz sagte, „ein europäisches Deutschland in einem deutschen Europa“. Ein kluger Kopf sagte kürzlich, die Frage von Henry Kissinger nach der Telefonnummer Europas sei jetzt beantwortet, sie habe jedenfalls die Vorwahl 0049 – 30. Damit sind wir beim Thema Berlin, beim Thema der Zukunft dieser Stadt als Zentrum Deutschlands, bei ihrer Symbolkraft für beides: für Krieg wie für Frieden, für das Gute wie für das Böse, für Teilung ebenso wie für Vereinigung.
  • Dieses europäische Deutschland ist heute ökonomisch ohne Zweifel die zentrale Macht in Europa. Sie spielt sicherheitspolitisch aber nicht die aktive und gestalterische Rolle, die von Deutschland aufgrund unsere Größe und unserer Möglichkeiten erwartet wird. Die Erwartungen, die unsere Partner an uns herantragen, sind nicht übertrieben – und Kritik, Deutschland ducke sich gelegentlich gerne weg, vor allem wenn’s schwierig wird, erscheint nicht immer ganz unberechtigt!
  • Wir Deutschen haben es uns im status quo bequem gemacht. Wir finden die Dinge gut so, wie sie sind. Große Veränderungen wollen wir nicht, am liebsten wäre es uns, wenn wir mit unserem weiter wachsenden Wohlstand allein gelassen würden. Wir wollen nicht wirklich zurück zur D-Mark, wir wollen aber auch keine weiteren, möglicherweise kostspieligen Erweiterungsschritte der EU, wir finden die Steuerlast zwar hoch, aber nicht zu hoch – es soll alles beim Alten, also beim status quo,  bleiben. So lässt sich übrigens auch das Wahlergebnis des vergangenen Sonntag recht plausibel erklären.
  • Das war freilich nicht immer so: Bis zur Wiedervereinigung – so war es ja auch im Grundgesetz niedergeschrieben – war die alte Bundesrepublik eine Anti-Status-Quo-Macht: Wir hatten das Ziel, den status quo der Teilung Europas zu überwinden. Auch die USA waren übrigens bei ihrer Gründung eine Anti-Status-Quo-Macht, gegen die Herrschaft Großbritanniens. Dieser ursprüngliche revolutionäre Veränderungswille wirkt in Amerika bis heute nach, z. B. bei den Versuchen,  den Rest der Welt für die Demokratie zu gewinnen, Beispiel George W. Bush. Hier in Deutschland ist hingegen der Veränderungswille nach 1990 weitgehend erlahmt. Wir hätten dann am liebsten den Gang der Geschichte eingefroren – aber so funktioniert es nun mal nicht.
  • Die Vorstellung, dass wir uns wie eine zu groß geratene Schweiz isolieren könnten von den Problemen der Welt, ist ein fataler Irrglaube – und genau falsch herum gedacht. Um uns herum dreht sich das Rad der Veränderung auf spektakuläre Art und Weise, und wir müssen mit dieser Herausforderung nicht nur umgehen, sondern müssen sie aktiv annehmen!  „Embracing Change“: Das wäre doch ein toller Slogan für Berlin und für Deutschland!
  • Ich möchte mich nicht lange aufhalten mit einer Analyse der veränderten außen- und sicherheitspolitischen Großwetterlage. Drei fundamentale Entwicklungen sind aber von großer Bedeutung:

Der sogenannte „Aufstieg der Anderen“, also von Staaten wie China, Brasilien und Indien führt dazu, dass die Weltordnung unübersichtlicher und internationales Handeln und Entscheiden komplizierter werden. Klar ist eins : Der relative Einfluss Deutschlands und Europas (und des Westens insgesamt) wird abnehmen: Bis 2050 wird Europa gerade einmal noch ca. 7% der Weltbevölkerung stellen. Darin liegt auch der Grund, warum die EU-Integration alternativlos ist.Wie sonst wollen wir uns Gehör verschaffen?

Die USA werden in Zukunft mehr Aufmerksamkeit und mehr Ressourcen nach Ostasien ausrichten. Amerika wird sich weniger in und um Europa engagieren als in der Vergangenheit. Das bedeutet nicht, dass die USA Europa „verlassen“ oder gar „alleine lassen“. Aber Europa wird sicherheitspolitisch selbstständiger werden müssen. Wir scheinen noch nicht verstanden zu haben, was das für uns bedeutet. Darin liegt die  größte Herausforderung für Deutschland und für die EU.

Also: Ob es uns gefällt oder nicht: Deutschland ist zum Schlüsselland in der EU geworden. Auf absehbare Zeit wird sich nichts daran ändern, dass Deutschland Europas „indispensable nation“ bleibt, wie es der polnische Außenminister Sikorski in seiner historischen Rede im Herbst 2011 in Berlin sagte. Der Gestaltungswille, der von Berlin ausgeht, wird  entscheidend darüber mitbestimmen, ob und wie Europa zukunftsfest gemacht wird

Was sollten die grundsätzlichen Leitlinien und Ziele für die kommenden Jahre sein?

  1. Wir müssen unser außen- und sicherheitspolitisches Handeln noch viel stärker europäisieren. Es gibt für Europa keine sinnvolle Alternative zu mehr Integration und gemeinsamem Handeln. Will irgendjemand angesichts der monumentalen globalen Veränderungen ernsthaft behaupten, dass wir Deutsche alleine irgendetwas ausrichten können? Militärisch verbietet das ja schon unsere Verfassung. Hier gilt das schöne Wort von Paul-Henri Spaak: „There are only two types of States in Europe: small States, and small States that have not yet realised that they are small.“
  1. Wir Deutsche dürfen uns nicht davor scheuen, Führungsverantwortung mit zu übernehmen. Das bedeutet nicht, dass wir uns zum Hegemon Europas aufspielen sollten oder gar zu arroganten Höhenflügen ansetzen sollten. Aber es bedeutet, dass wir „großzügige Führung“ lernen und praktizieren sollten – auch, da dies in unserem ureigensten Interesse ist. Führung, großzügigere Führung ist übrigens nie ganz kostenfrei, das muss auch gelernt werden.
  1. Wir müssen zu einer operativeren Außenpolitik finden. Jahrzehntelang  ist es Usus gewesen, dass sich bei wichtigen Fragen die USA, Frankreich, Großbritannien und Deutschland vorab treffen und abstimmen. Das ist der berühmte und bewährte „Viererkreis“. Vor zehn Tagen trafen  sich aber nur die

USA, Frankreich und Großbritannien, um über Syrien zu beraten – ohne Deutschland. Das darf nicht zum Symbol für die Zukunft werden! Zu diesem Zirkel gehört Deutschland!

Und schließlich 4. Wir sollten  unsere Außen- und Sicherheitspolitik besser und systematischer organisieren und das Institutionengefüge verbessern.

Welches Europa?

  • In den kommenden Monaten werden wir  Farbe bekennen müssen, was für ein Europa wir wollen. Aus taktischen Gründen standen bisher vor allem begrenzte Fragen – Rettungspakete, Bankenunion etc. – auf der Tagesordnung. Aber die großen Fragen gehören jetzt auf den Tisch!  Sie lassen sich nicht vermeiden, wenn wir die EU weiter entwickeln und den Euro erhalten wollen.
  • Die neue Bundesregierung und die französische Regierung haben nun ein Zeitfenster von über drei Jahren, bis wieder Wahlen anstehen. Sie haben z.B.  in der polnischen Regierung einen starken Partner, um Schritte auf dem Weg zu einer stärkeren EU und zu einer politischen Union auszubuchstabieren.
  • Intergouvernementale Lösungen sind in den vergangenen Jahren aus pragmatischen Gründen zwar häufig bemüht worden. Aber der Weg in ein stärkeres Europa kann nur über eine Stärkung der europäischen Institutionen, v. a. des Parlaments und der Kommission, führen. Der Grundsatz sollte sein: Intergouvernementale Lösungen nur so oft wie nötig, Stärkung europäischer Institutionen so massiv wie möglich. Die ursprüngliche Idee, eine starke Kommission mit singulärem Vorschlagsrecht zu schaffen, war eine brillante Idee!
  • Dabei muss im übrigen auch gelten, dass wir für Positionen wie der des Kommissionspräsidenten und des Außenbeauftragten immer auf „The Best and the Brightest“ setzen, auch wenn solche Persönlichkeiten manchmal unbequem sein können. Eine Pöstchenverteilung nach geografischen oder politischen Proporzregeln ist der Bedeutung der Europäischen Union nicht angemessen.

Ein Europa der Verteidigung

  • Ein zentraler Bereich, in dem in Europa große Integrationsfortschritte nötig und möglich sind, ist die Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Im Dezember wird sich der Europäische Rat erstmals seit langem wieder prominent mit Fragen der Sicherheit und Verteidigung auseinandersetzen.
  • Die Notwendigkeit, den Gedanken der Integration endlich auch in die Verteidigungspolitik einzubringen, ist offensichtlich:

Europa setzt seine bescheidenen Verteidigungsausgaben völlig ineffektiv und ineffizient ein. Es ist skandalös, wie wenig bang for the buck wir in Europa bekommen. Die Verteidigungsausgaben der europäischen Staaten betragen gemeinsam knapp 40 % der US-Ausgaben, aber die tatsächliche Schlagkraft macht nur etwa 10 % US-Fähigkeiten aus, dabei leisten sich die EU-Staaten sechsmal so viele unterschiedliche Waffensysteme wie die USA. Angesichts der hohen Fixkosten von Rüstungsgütern ist diese Fragmentierung verantwortungslos.

Eine Studie, die von McKinsey gemeinsam mit der Münchner Sicherheitskonferenz erstellt wurde, hat errechnet, dass die europäischen Staaten jährlich bis zu 30 Prozent – jährlich 13 Milliarden! – sparen könnten, wenn sie bei der Rüstungsbeschaffung enger zusammenrückten.

  • Den europäischen Regierungen ist die Tatsache des ineffektiven und ineffizienten Einsatzes der Verteidigungsausgaben bewusst. Ebenso die Schlussfolgerung, dass deutlich verstärkte Verteidigungskooperation die einzige Möglichkeit ist, den Missständen beizukommen. Diese Erkenntnis kommt in den Initiativen zu Pooling & Sharing im europäischen Rahmen und Smart Defence im NATO-Rahmen zum Ausdruck.
  • Inzwischen wird kaum eine Rede gehalten, kaum eine Erklärung unterschrieben, in der nicht die Bedeutung von mehr Kooperation betont wird.

Beispiel: Deutsch-Französische Erklärung „Für ein stärkere europäische Sicherheit und Verteidigung“ vom 6. Februar 2012: „Gerade in Zeiten strategischer Unwägbarkeiten und begrenzter Ressourcen sind gemeinsame Rüstungsprojekte für eine starke Verteidigung unabdingbar. Wir müssen deshalb bereit sein, die erforderlichen Entscheidungen zu treffen.“

Aber was sind die „erforderlichen Entscheidungen“? Wo sind die Ideen? Wer geht voran und macht konkrete Vorschläge? Da ist bisher eindeutig zu wenig geschehen.

  • In einzelnen Bereichen – das European Air Transport Command EATC ist ein schönes Beispiel –  sind durchaus gute Fortschritte gemacht worden. Aber warum nicht größer denken? Warum nicht z. B. eine europäische Ostseeflotte? Warum nicht mehr gemeinsame Ausbildung? Braucht wirklich jede Nation einen eigenen Hubschraubertyp nach eigenen Spezifikationen?
  • Auch ich sehe natürlich, dass wir noch weit entfernt sind von weitreichenden Entscheidungen hinsichtlich Spezialisierung auf nationaler Ebene und der Organisation von Fähigkeitsentwicklung im multinationalen Verbund. Schließlich berührt dies einen Bereich, der jahrhundertlang zum Kern nationaler Souveränität gehört hat – und viele schwierige Fragen mit sich bringt, die unbequem sind.
  • Wie müssen, zumal im Zusammenhang der in vielen Ländern stattfindenden Reformen, die Streitkräfte strukturiert sein, damit beispielsweise Luftwaffen oder die Marine verschiedener Länder zusammengelegt werden können? Was bedeutet das für die industrielle Basis und die stark national ausgerichteten Beschaffungsprozesse? Wie könnte ein Militäreinsatz mit zusammengelegten Streitkräften in der Praxis autorisiert werden?
  • Aber deshalb die Schlussfolgerung zu ziehen, dass wir jeglichen Ehrgeiz erst gar nicht entwickeln sollten, erscheint mir allzu kurzsichtig. Die niederländische Verteidigungsministerin Jeanine Hennis-Plasschaert, eine wichtige Stimme in der europäischen Debatte, hat auf der Sicherheitskonferenz 2013 die Frage richtig gestellt:

“Sollten wir den Verlust an Souveränität wirklich fürchten? Oder sollten wir das Konzept Souveränität nicht vielmehr weniger traditionell definieren?”

Anders formuliert: Was ist der Wert traditionell verstandener Souveränität, wenn ein einzelner europäischer Staat alleine überhaupt nicht mehr handlungsfähig ist? Das wäre doch Souveränität ohne  Inhalt?

Zudem sind heutige Operationen, etwa Friedenserhaltungsmissionen, ohnehin multilateral. Wir sollten also auch entsprechend planen und entsprechende Strukturen aufbauen.

  • Ich möchte daran erinnern, was im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP 2009 stand: „Langfristiges Ziel bleibt für uns der Aufbau einer europäischen Armee unter voller parlamentarischer Kontrolle.“ Die Grünen und die SPD – Sigmar Gabriels interessante Rede an der Führungsakademie in Hamburg im Juli 2011 ist ein Beispiel – sehen das ähnlich. Nur, weil ein Ziel „langfristig“ ist, muss man es nicht auf die lange Bank schieben. Hier erhoffe ich mir von der künftigen Bundesregierung neue und weitreichende Impulse für Europa.
  • Sollte beim Europäischen Rat im Dezember nur ein winziger Schritt herauskommen, wäre das in Richtung europäischer Verteidigungsintegration zu wenig. Wir brauchen ambitionierte Ziele, maßgeblich angetrieben von der deutschen Außenpolitik. Der Europäische Rat sollte insbesondere auch die Ausarbeitung eines EU-Weißbuchs zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Auftrag geben. Die Welt – und wir Europäer selbst – möchte Klarheit über Ziele, Instrumente, und Methoden europäischer Sicherheitspolitik.

Es wäre sinnvoll, das Mandat zur Ausarbeitung dem Nachfolger von Lady Ashton im Amt des EU-Außenbeauftragten zu übertragen: Das wäre eine wunderbare erste Aufgabe für ihren Nachfolger!

Auch in der Frage von Mehrheitsentscheidungen im Bereich der Außenpolitik sollte und könnte die Bundesregierung mutig voranschreiten. Wir haben doch von der Mehrheit der kleinen Staaten in der EU absolut nichts zu fürchten – im Gegenteil.

Syrien, deutsches Engagement und der Umgang mit militärischen Mitteln

  • Deutsche Initiativen bei der Europäisierung der Sicherheitspolitik wären auch geeignet, gewisse Zweifel bei unseren Partnern zu zerstreuen. Unsere Partner flehen geradezu nach einer aktiveren deutschen Rolle in der internationalen Sicherheitspolitik.
  • Ich möchte die zahlreichen und verdienstvollen Bundeswehreinsätze, insbesondere in Afghanistan und in Kosovo nicht kleinreden. Die Bundeswehr hat sich enorm entwickelt und sich ihren Aufgaben gewachsen gezeigt. Was gelegentlich fehlt ist Klarheit und Entschlossenheit, das Mittel der Bundeswehr zur Erhaltung oder auch zur Erzwingung des Friedens einzusetzen. Übrigens deutet sich auch bei der Linkspartei in dieser Frage eine innerparteiliche Debatte an, die eine ähnliche Entwicklung wie bei den Grünen in den 90er Jahren unter Joschka Fischer einleiten könnte: ist kategorischer Pazifismus wirklich die moralische einzig richtige Antwort auf massive Menschenrechtsverletzungen, auf Massenmord oder gar Genozid?
  • In Gesprächen in allen großen Partnerländern stellt man Frustration darüber fest, dass sich Deutschland sicherheitspolitisch gelegentlich kleiner macht, als es ist und sein sollte.Der ehemalige französische Außenminister, der Sozialist Hubert Védrine, fragte vor kurzem: „Warum akzeptiert Deutschland nicht, auch in anderen Bereichen mehr zu unternehmen? … Ich sehe wirklich nicht, was Deutschland daran hindert, eine größere Rolle in der internationalen Politik und bei militärischen Einsätzen zu spielen.“Frankreich bsp. hat in Mali sehr viel riskiert – und man kann kaum argumentieren, dass Frankreich in ganz anderem Maße von Unsicherheit in der Sahelzone betroffen ist als die anderen Europäer. Trotz der Einschnitte, die im französischen Weißbuch 2013 angekündigt wurden, werden ca. 15 000 Truppen im Ausland stationiert werden können.
  • Es bleibt als Grundprinzip richtig, dass wir „militärische Zurückhaltung“ üben. Militärische Zurückhaltung darf aber nicht zu unterlassener Hilfeleistung führen! Auch die Bundesrepublik hat sich zur internationalen Norm der Schutzverantwortung bekannt, die in Extremfällen den militärischen Schutz von Bevölkerungen vor ihren eigenen massakrierenden Machthabern vorsieht. Der Einsatz militärischer Macht darf in Deutschland kein Tabuthema sein, wir brauchen darüber die offene und gelegentlich auch kontroverse Debatte. Dabei ist klar, dass militärische Mittel allein nicht geeignet sind, politische Konflikte zu lösen oder zu beenden. Aber militärische Mittel können eben doch notwendig werden, um z.B. Konfliktparteien den Weg zum Verhandlungstisch als ihre einzige Option zu verdeutlichen.
  • Nehmen wir die Frage Syrien: Politiker in Deutschland waren sehr flink, als es darum ging, Konsequenzen nach dem Giftgaseinsatz zu fordern. Danach war aber Schluss. Für die Umsetzung der Konsequenzen sind dann anscheinend  andere zuständig.
  • Mir ist die Feststellung wichtig, dass wir die Lehren aus den Kriegen auf dem Balkan in den 1990ern nicht völlig vergessen dürfen: dass die Drohung mit, und der begrenzte Einsatz von militärischen Mitteln, in bestimmten Situationen  Leben retten und eine Verhandlungslösung herbeiführen können, weil die Konfliktparteien zu ernsthaftem Verhandeln gezwungen werden.
  • An die Adresse aller Interventionsgegner: Auch die Vereinbarung zur chemischen Abrüstung des syrischen Regimes wäre ohne die Drohung mit militärischen Mitteln nicht möglich geworden. Leider kommt dieser Verhandlungsschritt zwei Jahre zu spät, nach 100.000 Opfern!
  • Die amerikanisch-russische Annäherung wird hoffentlich auch eine Verhandlungslösung des syrischen Bürgerkriegs näher bringen . Aber auch hier gilt: der Weg nach Genf führt zwangsläufig nicht an Moskau vorbei.

NATO und Transatlantische/euroatlantische Beziehungen

  • Die Tatsache, dass ich sehr viel über Europa gesprochen habe, bedeutet nicht, dass das Bündnis mit den USA geringere Bedeutung hätte.
  • Die Alternative „Europa oder USA?“ gibt es erfreulicherweise  nicht mehr.  Dieser Zustand ist ein großer Luxus für die deutsche Außenpolitik . Jahrzehntelang wurde hier debattiert, wie die beiden Pfeiler deutscher Sicherheitspolitik – europäische Integration und transatlantische Partnerschaft – miteinander in Einklang gebracht werden konnten. Erinnert sei an die Diskussion über den Élysée-Vertrag und die Auseinandersetzungen zwischen Gaullisten und Transatlantikern. Darüber müssen wir uns heute keine Gedanken mehr machen.
  • Frankreich ist in die militärische Integration der NATO zurückgekehrt. Und die USA formulieren klar und eindeutig, wie sehr ein funktionierendes und einiges Europa auch für die USA wichtig ist.
  • Biden in München 2013: „a strong and capable Europe is profoundly in America’s interest, and I might add, presumptuously, the world’s interest.“
  • Essentielle Themen gibt es mehr als genug – nicht nur NSA und Geheimdienste.
  • Wir müssen klare Kante zeigen gegenüber den bekannt gewordenen Geheimdienstpraktiken, auch wenn sie von unseren eigenen Partnern praktiziert werden.
  • Zugleich sollten wir die gesamte Affäre zum Anlass nehmen, die internationale Debatte um Regeln im Cyberspace, der heute ja eher dem Wilden Westen als einer zivilisierten Welt ähnelt, ganz oben auf der Tagesordnung zu halten. Gerade hier kann die „Softpower“ der EU in besonderer Weise gefragt sein. Wer, wenn nicht die EU, könnte sich des Themas des Schutzes der Privatsphäre des Einzelnen in der digitalen Welt von morgen am besten annehmen?
  • Aber wir tun uns selbst keinen Gefallen, wenn wir ein Junktim herstellen würden zwischen der Geheimdienstaffäre und dem womöglich wichtigsten strategischen transatlantischen Thema: der Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft. TTIP ist ja nicht ein Projekt, mit dem wir Dritten einen Gefallen tun, sondern TTIP ist ein europäisches Kernanliegen, ein zentrales Interesse Europas.
  • Dieses „TTIP“ ist viel mehr als nur ein Handelsabkommen:
  • Nicht nur sind wichtige Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung in beiden Volkswirtschaften zu erhoffen, die hunderttausende Jobs auf beiden Seiten des Atlantiks schaffen könnten. Zugleich könnten die USA und die EU zentrale globale Handelsregeln setzen.
  • In Worten der Bundesregierung auf der Sicherheitskonferenz 2013, „ein wichtiger Baustein für die Zukunft der liberalen internationalen Ordnung, auf der unsere Sicherheit und unser Wohlstand beruhen. […] Ein transatlantisches Abkommen, das nicht nur Handelsfragen, sondern Investitionen, Dienstleistungen, Normen und Standards umfasst, wäre ein überzeugender Beitrag für die Selbstbehauptung Europas und Amerikas in der Globalisierung“.
  • Ich komme zur NATO: Was ist eigentlich die deutsche Vorstellung von der NATO? Was passiert mit dem Bündnis nach dem Ende der ISAF-Operation in Afghanistan? Brauchen wir die NATO überhaupt noch?
  • Ja, das Bündnis brauchen wir: Wir brauchen es wegen der nuklearen Rückversicherung und der kollektiven Selbstverteidigung. Das ist der Kern der deutschen Mitgliedschaft. Ohne die NATO könnten die deutschen Streitkräfte, von EU und VN-Einsätzen abgesehen, gar nicht verfassungskonform eingesetzt werden.
  • Wenn es eine klare Position der deutschen Bundesregierungen der letzten Dekade gab, was die NATO anbelangt, war es stets der Hinweis darauf, dass die NATO der zentrale Ort transatlantischer Willensbildung sein soll, an dem Europäer und Amerikaner gemeinsam über ihre sicherheitspolitischen Strategien beraten und entscheiden. Sowohl Bundeskanzler Schröder (2005) wie auch Bundeskanzlerin Merkel (2006) haben dies in fast identischen Worten als programmatisches Ziel erklärt. Haben wir die NATO in diesem Sinne wirklich genutzt? Ist sie der zentrale Ort unserer gemeinsamen Willensbildung geworden? Da sind doch erhebliche Zweifel angebracht. Zuletzt, in der Syrien-Krise, vermittelte Berlin eher den Eindruck, das Thema gerade nicht im Bündnis behandeln zu wollen.
  • Die zentrale operative Aufgabe des Bündnisses bleibt die Zusammenarbeit mit Russland. Für Russland, einen Platz in der euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur zu definieren,– unabhängig davon, wie sich die innenpolitische Lage in Russland darstellt – das ist die noch unerledigte und historische Aufgabe. Eine Aufgabe ganz besonders und gerade für deutsche Außenpolitik– nicht in Äquidistanz zu den USA und Russland, aber als Impulsgeber in der Zusammenarbeit mit Russland.
  • Wir suchen den Ausgleich mit Russland ja nicht, um jemandem in Moskau einen Gefallen zu tun, sondern aus strategischem  Eigeninteresse.
  • Ebenfalls viel zu wenig ist passiert im Bereich der Abrüstung.

2011 wurden zwar am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz mit dem „New START“-Vertrag bescheidene Fortschritte erzielt.

Aber der Kernwaffenteststopp-Vertrag (Comprehensive Test Ban Treaty CTBT) bleibt unratifiziert. Strategische Nuklearwaffen können auch heute kurzfristig gestartet werden – ein Fehlalarm könnte eine globale Katastrophe auslösen.

Im Grunde muss die orthodoxe Lehre der Rüstungskontrolle – „gleichzeitige und vertraglich vereinbarte parallele Abrüstungsmaßnahmen“ – auf den Prüfstand.

Die deutsche Initiative von 2009 etwa, auf einen Abzug der in Deutschland verbleibenden US-amerikanischen taktischen Nuklearwaffen hinzuwirken, war durchaus richtig. Diese Frage sollte auch die nächste Bundesregierung weiterverfolgen und eine mögliche Auseinandersetzung darüber auch nicht scheuen. Für diese Waffen gibt es keine sinnvolle militärische Einsatzdoktrin. Es ist deshalb richtig zu fragen, ob mit ihrem Abzug nicht eine Abrüstungsdynamik in Gang gesetzt werden könnte, die überfällig ist.

  • Ein weiteres Feld, in das dringend Bewegung kommen muss, sind die Nuklearverhandlungen mit dem Iran: Einiges spricht dafür, dass in den kommenden Monaten ein einmaliges Fenster offen stehen wird. Die Nachrichten aus New York klingen positiv. Allerdings gilt: Wir dürfen Teheran nicht an seinen Worten, sondern müssen Teheran an seinen Taten messen. Für die bevorstehenden amerikanisch-iranischen Verhandlungen empfehle ich die Methode Egon Bahr bzw. die Methode Kissinger: Geheimverhandlungen bzw. Gespräche unter Einbeziehung eines „Back channel“. So können hardliner auf  beiden Seiten leichter in Schach gehalten werden.

Institutionen und Prozesse

Lassen sie mich abschließend einige konkrete Maßnahmen nennen, mit denen das Gefüge der relevanten Institutionen in Berlin verbessert werden könnte.

  1. Die Einrichtung eines deutschen Energieminsteriums ist zum Zwecke der Umsetzung der Energiewende nicht nur notwendig, worauf Günther Oettinger zu recht hingewiesen hat, ein solches Ministerium könnte auch sicherstellen, dass Berlin in Brüssel mit einer und nicht mit mehreren Stimmen spricht.
  2. Reform und Ausbau des Bundessicherheitsrates: Die Konzentration außenpolitischer Entscheidungskompetenz in den Regierungszentralen aller EU-Mitgliedsstaaten stellt die Ressortverantwortung derAußenministerien tendenziell in Frage. Ein Bundessicherheitsrat mit Unterbau, besetzt mit Beamten aus den betroffenen Ressorts könnte die Kohärenz außenpolitischer Entscheidungsprozesse stärken und sicherstellen, dass  Bundeskanzleramt und Außenministerium transparent und in „real time“ miteinander kommunizieren und am gleichen Strange ziehen. Die früher häufig geäußerte Befürchtung, ein Ausbau des Sicherheitsrates würde des AA schwächen, hat sich angesichts der Entwicklung ins Gegenteil verkehrt: Ohne eine systematischere und gemeinsame Erarbeitung sicherheitspolitischer Entscheidungen würde die Marginalisierung des AA und anderer Ressorts fortschreiten.
  1. Die Etablierung einer verpflichtenden jährlichen außen- und sicherheitspolitischen Generaldebatte, zu der die Regierung jeweils einen Grundsatzbericht vorlegen müsste. Wir brauchen mehr öffentliche Debatte zu sicherheitspolitischen Herausforderungen.
  1. Die regelmäßige Erarbeitung eines Weißbuchs zur Sicherheit und Verteidigung wäre nicht nur ein wichtiger Baustein für eine Sicherheitsstrategie der EU, sondern könnte die öffentliche Debatte animieren und zugleich  auch zu größerer Konsensbildung in allen relevanten Fragen innerhalb der Bundesregierung führen. Frankreich bietet mit seiner Praxis des regelmäßigen „Livre Blanc“ ein vorzügliches Beispiel. Was für ein gutes Zeichen könnte es sein, wenn die Bundesregierung bei der Erarbeitung eines Weißbuchs dem französischen Beispiel folgen würde und Vertreter wichtiger Partnerstaaten zur Mitwirkung einladen würde! Wir könnten sogar noch über das französische Beispiel hinausgehen und z. B. Vertreter von EU und NATO ebenfalls in eine entsprechende Kommission einbeziehen.
  1. Eine Reform der Parlamentsbeteiligung bei Auslandseinsätzen

Im Zuge der weiteren Integration von Streitkräften in Europa werden wir uns mit d er Frage beschäftigen müssen, wie wir den Parlamentsvorbehalt „europafest“ bzw. „bündnisfest“ machen können.

Es ist offensichtlich, dass niemand bereit sein wird, seine militärischen Fähigkeiten eng mit den unseren zu verzahnen, wenn dann die Einsatzfähigkeit nicht sichergestellt ist und in jedem Einzelfall vom Votum des Bundestags abhängt.

Ein erfahrener deutscher NATO-Diplomat hat dieser Tage eine SWP-Studie vorgelegt, die einen interessanten Weg aufzeigt, wie – ohne Infragestellung des Parlamentsvorbehalts – z.B. das unglückselige und wiederholte Ausscheiden deutscher Besatzungen aus dem AWACS-Verband verhindert werden könnte. Hoffentlich wird der künftige Bundestag über diesen und andere Vorschläge offen diskutieren, um die deutsche Bereitschaft zu Bündnis- und Partnerschaftsfähigkeit unter Beweis zu stellen.

  • Der Text des Grundgesetzes der Bundesrepublik wurde zwar nicht in Berlin ausgearbeitet oder verabschiedet. Doch die Präambel hält nach wie vor den besten Grundsatz für deutsche Außen- und Sicherheitspolitik bereit, auch für die heutigen neuen Rahmenbedingungen der Berliner Republik: „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.
  • Kein Ort ist so sehr wie Berlin Symbol für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, für europäische Teilung und für den Fall von Grenzen. Auch deshalb muss gerade aus Berlin die Initiative ausgehen für die weitere Konstruktion der europäischen Einigung, auch in der Außen- und Sicherheitspolitik. Der status quo mag zwar für den Augenblick bequemer sein – langfristig tragen wird er aber nicht.
  • Hoffen wir also auf eine Berliner Initiative für ein glaubwürdigeres und außenpolitisch aktiveres und mit einer Stimme sprechendes Europa. Eine solche Berliner Initiative könnte auch ein glückliches Signal dafür sein, dass Deutschland bereit ist, sich dem notwenigen Wandel zu stellen, bereit ist, sich vom Status Quo zu lösen, bereit ist, sich nicht wegzuducken, sondern sich seiner zentralen Mitverantwortung für den Frieden in und um Europa zu stellen.
The views expressed are those of the author(s) alone. They do not necessarily reflect the views of the American-German Institute.