Deutschland und die Ukraine-Krise

Rolf Mützenich

Dr. Rolf Mützenich has represented Cologne as a Member of the German Bundestag for the Social Democratic Party (SPD) since 2002. He is the Deputy Parliamentary Leader for Foreign Policy, Defense, and Human Rights in the SPD Parliamentary Group.

His work focuses on foreign policy and arms control. His areas of expertise are transatlantic cooperation, Russia, Afghanistan, and the Middle East (with a focus on Iran). Rolf Mützenich serves as an alternate member on the Foreign Affairs Committee, the Defense Committee, and the Committee on Human Rights and Humanitarian Aid.

From 2009-2013, he was Speaker on Foreign Affairs for the SPD Parliamentary Group in the German Bundestag. He also served as the group’s speaker on disarmament from 2004-2009. Apart from his foreign policy focus, Rolf Mützenich is committed to working with social and youth associations. Rolf Mützenich studied political science, history and economics, and he received a Doctorate from the University of Bremen in 1991.
Read More

Die gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Ukraine und die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland haben die Grundlagen der europäischen Friedensordnung untergraben. Vertrauen, Gewaltverzicht und Regeln wurden missachtet. An ihre Stelle traten Willkür, Provokationen und das Schüren von Ängsten. Ob dies ein historischer Einschnitt ist, vergleichbar dem Ende des Kalten Krieges oder den Anschlägen vom 11. September, kann heute niemand ernsthaft beurteilen. Die Ukraine-Krise hat jedoch zweifelsohne das Potential für weitere Eskalation und brandgefährlich ist diese allemal. Deshalb ist deutsches Regierungshandeln derzeit vor allem darauf ausgerichtet zu deeskalieren, die wenigen Gesprächsfäden zu stärken, Konfliktbeteiligte einzubinden und die europäischen Institutionen auf ein gemeinsames Handeln zu verpflichten. Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier arbeiten hierzu eng und mit guten Absichten zusammen. Die Koalition ist sich einig in der Bewertung der Ereignisse wie in der Anwendung politischer Instrumente und Handlungen. Einigen mag das zu wenig sein, aber es schafft die Voraussetzung für die friedliche und diplomatische Bearbeitung des Konflikts.

In den vergangenen Wochen ist der Eindruck entstanden, dass ein Großteil der Deutschen und der deutschen politischen Klasse das Verhalten der russischen Regierung billige oder die Handlungen zumindest verstehen könne. Umfragen scheinen dies zu belegen und die Äußerungen einiger ehemaliger Kanzler sprechen für sich. Dabei dürfen wir nicht übersehen: Viele Bundesbürger sind zutiefst besorgt, einige haben Angst vor militärischen Zusammenstößen, wiederkehrenden Rüstungswettläufen, neuen Grenzmauern oder -ganz banal- vor dem Ausbleiben der Gas- und Öllieferungen aus Russland. Und wenn in den Feuilletons und Talkshows, reißerisch und gedankenlos, Vergleiche mit dem Ersten Weltkrieg gezogen werden, ist Verunsicherung die Folge. Das sollte man Ernst nehmen. Das heißt noch lange nicht, dass die Deutschen die Handlungen im Kreml gutheißen. Sie wissen um die Folgen und ein Großteil befürchtet, dass dies nur der Auftakt ist zu einem Jahrzehnt neuer Gebietskonflikte, zwischen Völkern und Großmächten. Die Mehrzahl der deutschen Bevölkerung weiß, dass deutsche Truppen im vergangenen Jahrhundert im Gebiet der Ukraine gemordet und das Land verwüstet haben. Aber wir wissen auch, dass Russen und Deutsche immer wieder über dieses Land bestimmen wollten. Vor diesem Hintergrund ist das Misstrauen unserer Nachbarn verständlich. Dem können wir allein durch partnerschaftliches Handeln und Solidarität begegnen.

Die Lehren, die jetzt gezogen werden müssen, liegen auf der Hand: Mit kühlem Kopf müssen Spannungen abgebaut werden, zuerst in der Ukraine durch die Akteure vor Ort, aber auch von denjenigen, die sich beständig von außen einmischen. An erster Stelle Russland, aber auch westliche Regierungen einschließlich der USA. Die Ukraine ist ein souveräner Staat. Nach dem Ende des Kalten Krieges ist eine Gesellschaft im Werden begriffen, die nach Jahrhunderten der Fremdherrschaft und Unterdrückung ihre eigene Identität und Geschichte wiederfinden will. Es wäre gut, wenn wir dies anerkennen und respektieren würden. Die Idee, der Ukraine ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union anzubieten, sollte diesen Weg begleiten und stärken. Es ging dabei nicht um die Erschaffung neuer Einflussgebiete, ganz im Gegenteil: Die Assoziierung war als Alternative zu einem EU-Beitritt konzipiert. Der Fehler war, dies nicht ausreichend erläutert und kommuniziert zu haben. Unter diesen Bedingungen wäre sogar die Perspektive einer Zusammenarbeit zwischen der EU und Putins Eurasischer Union möglich, um diesen Wirtschaftsraum anzukoppeln und zu modernisieren. Dass der russische Präsident vor einem solchen Ausblick, der Freiheiten und Minderheitenrechte einschließt, Angst hat, ist offensichtlich.

Dennoch: Der Kalte Krieg ist endgültig vorbei. Der Ruf nach dessen Werkzeugkasten ist daher töricht. Russland steht nicht in einer Systemkonkurrenz zum kapitalistischen Westen. Die Machthaber im Kreml bedienen sich vielmehr der Instrumente des 19. Jahrhunderts und können sich dabei auf die Parteigänger und Willfährigen in den nationalistischen Parteien Europas verlassen. Ihr zynisches Kalkül, Nationalismus und Chauvinismus als Spaltpilz in der Europäischen Union wiederzubeleben, ist eine weitere Gefahr, mit der wir uns derzeit auseinanderzusetzen haben. Was alle diese Gruppen am meisten fürchten sind demokratische Wohlfahrtsstaaten wie sie nach dem Ersten Weltkrieg auf beiden Seiten des Atlantiks entstanden, wenn sie auch noch längst nicht abschließend verwirklicht wurden.

Denjenigen, die in der Ukraine-Krise den Beweis dafür sehen, dass das Konzept der sozialdemokratischen Entspannungspolitik nun endgültig gescheitert sei, kann man nur erwidern: Durch die russische Aggression ist nicht die Entspannungspolitik desavouiert, sondern deren unveränderte Notwendigkeit bewiesen. Gerade in Zeiten neuer Spannungen brauchen wir eine neue Entspannungspolitik. Doch dazu gehören zwei.

The views expressed are those of the author(s) alone. They do not necessarily reflect the views of the American-German Institute.